Leibeigenschaft
Ein ganzes Leben lang als Leibeigener in persönlicher Unfreiheit einem fremden Herrn als ein Teil seines Besitzes gehören zu müssen, ist für den heutigen Menschen ein unvorstellbarer Gedanke. Damit musste sich aber noch vor 300 Jahren in Mittel-stadt mehr als ein Drittel, vielleicht sogar die Hälfte der Einwohner abfinden. 1573 wurden im Lagerbuch der Kellerei Urach 49 Mittelstädter aufgeführt, die dem Oberamt Urach leibeigen waren. Eine mindestens ebenso große Anzahl dürften wir für die anderen Mittelstädter Grundherren annehmen, so dass wir für Mittelstadt und Reicheneck auf über 100 Leibeigene kommen. Viktor Ernst meint in der OAB Urach von 1909 sogar, dass wohl allgemein die Hälfte der gegenwärtigen Gesamtbevölkerung unfrei war.
Daß das Kloster Pfullingen mit Sicherheit Leibeigene hatte, beweist folgende Urkunde aus dem Jahre 1405. Danach erhielt ein Buck Wipreht von Reicheneck auf Lebenszeit ein Fischwasser in Mittelstadt. Wörtlich heißt es: »Und han den obgenannten Frauen von Pfuifingen zu Handlohn gegeben Irmelun die Schmälzlinun, Schmälzlins Tochter von gen... . . . und allu ihre Kind«, die sie nun für ewig als eigene Leute innehaben und nützen, schirmen und schützen sollten wie ihre anderen eigenen Leute. Dieses Fischrecht zu Mittelstadt wurde also mit Menschen bezahlt, denn Leibeigene waren durchaus ein Handelsobjekt, wie jedes Stück Vieh.
Entscheidend für die Leibeigenschaft des einzelnen Menschen war nur die Herkunft der Mutter, nicht die des Vaters. War die Mutter leibeigen, mussten es die Kinder auch sein. Nach einer alten Urkunde von 1522 gab jeder Mittelstädter Leibeigene jährlich eine Henne, die sogenannte Leibhenne, die der Leibvogt einzuziehen hatte; er wurde deshalb auch Hühneroogt genannt. In dieser erwähnten Urkunde heißt es: ►Und wird ein Ehgemächt also für eine Person gerechnet«, das heißt, Eheleute gaben zusammen nur i Leibhenne. Jeder leibeigene Mann hatte laut dieser Urkunde 2 Pfund Heller Mannssteuer zu entrichten.
Stadtluft macht frei!« hieß das Schlagwort jener Zeit. Und so gingen natürlich viele Leibeigene in die Stadt, sofern sie dort aufgenommen wurden. Aber auch die unter fremde Landesherrschaften verziehenden württembergischen Leibeigenen waren seit 1520 ohne weiteres von ihrer Leibeigenschaft befreit.
Gegen eine angemessene Summe Geld konnte sich ein Leibeigener jedoch auch freikaufen. So lesen wir im Mittelstädter Gerichtsprotokoll von 1756: »Der Müller Weißhardt aber soll zu aller Erfordernis schriftlich beibringen, dass er sich von seiner Leibeigenschaft gänzlich losgekauft hat, da er alsdann auch seines ehemals ihm zugesagten Bürgerrechts halber nirgendwoher keinen Anstand gewarten haben solle.« Bürger konnte also nur sein, wer nicht leibeigen war. Leibeigenschaft war jedoch nicht immer nur eine Last und Bedrückung, sie brachte unter Umständen auch Vorteile, denn die Grundherren bevorzugten ihre Unfreien, die Eigenleute, insbesondere bei der Belehnung ihrer Güter.
Die Abgaben der Leibeigenen waren, wie wir schon sehen konnten, für gewöhnlich klein. Größer waren die Belastungen beim Tode eines Unfreien. In diesem Fall beanspruchte der Leibherr das Besthaupt, d. h., vom Manne das beste Roß oder den besten Stier, von der Frau die beste Kuh. Württemberg forderte von den Mittelstädter leibeigenen Männern laut obengenannter Urkunde zu Hauptrecht und Fall (Todesfall) von je 100 hinterlassenen Gulden Vermögen einen Gulden, Frauen zahlten nichts. All das änderte sich nach den Freiheitskriegen (1813-1815). Die Gesetze und Edikte von 1817, 1818,1848 und 1849 beseitigen die Leibeigenschaft mit all ihren Folgen. Von nun an waren dem Gesetz nach theoretisch alle Menschen gleich frei.