Der Umsturz
Am Abend des 19. April 1945 sahen die Mittelstädter, dass in Pliezhausen beim Café eine französische Geschützbatterie in Stellung ging, die ihre Rohre gen Mittelstadt richtete. Diese unmittelbare Nähe des Feindes veranlasste das hiesige Brückensprengkommando, zwei Pioniere einer Rosenheimer Spezialeinheit, die Sprengung der Neckarbrücke durchzuführen. Doch im selben Augenblick, als einer der Soldaten auf die Brücke zulief, begannen die französischen Geschütze zu schießen: das erste Geschoß schlug auf dem oberen Auchtert ein, das zweite auf dem Neckarspitz, das dritte detonierte unmittelbar neben dem Pionier vor der Brücke, so dass jedermann glaubte, er sei von der Granate zerrissen worden, aber wie durch ein Wunder tauchte der Soldat aus der Dreck- und Rauchfontäne wieder auf und rannte auf die Mühle zu. Wenige Sekunden später erschütterte eine starke Detonation die Luft, und die Brücke fiel ins Wasser. Die französischen Geschütze schwiegen wieder.
Am folgenden Tag, dem 20. April, gegen 14 Uhr, meldeten Volkssturmmänner das Nahen französischer Panzer aus Richtung Oferdingen. Ortsgruppenleiter Wolfer sah vom Egertle aus, wie eine etwa 8o Mann starke französische Einheit über den Riethrain und Hairling sich dem Dorf auf Schützenpanzern näherte. Er erkannte die Aussichtslosigkeit eines Widerstandes und wies seine ihm unterstellten Volkssturmmänner an, den Uniformrock abzulegen, Zivilkleider anzuziehen und die Waffen zu verstecken oder wegzuwerfen. Er selbst floh mit Wilhelm Geckeler auf einem Motorrad über die Bempflinger Straße auf die Alb. Auf der Bempflinger Straße angekommen, musste er feststellen, dass wenige hundert Meter von der Straße entfernt, auf Fröhlefeld, schon eine Gruppe Franzosen mit einem leichten Maschinengewehr in Stellung gegangen war, von der die beiden Flüchtenden Feuer erhielten. Doch die Franzosen trafen nicht und Wolfer und Geckeler konnten so ungehindert die Alb erreichen.
Im Dorf selbst waren noch versprengte Trupps deutscher Soldaten anwesend. Einer von ihnen feuerte entweder infolge einer Kurzschlusshandlung oder aus Versehen von der Bergsteigstraße aus eine Panzerfaust auf die nahenden französischen Panzer ab. Die Entfernung war jedoch viel zu groß, als dass dies Geschoß bei den Franzosen hätte Schaden anrichten können. Diese hielten jedoch sofort an, weil sie Verteidigungsabsichten in Mittelstadt zu erkennen glaubten und eröffneten mit Panzergeschützen und Maschinengewehren das Feuer auf das Dorf. Brandgranaten setzten bald das Haus Hofstattstraße 15 (Otto Röhm) sowie die Gebäude Goethestraße 13 (Karl Lutz) und Bergsteigstraße 10 (Wartmann) in Brand.
Karl Mayer aus Mittelstadt, der mit seinem Enkel in seinem Gartenhaus im Bergsteig Schutz suchte, wurde bei diesem Feuerüberfall tödlich verwundet.
Es dauerte nicht lange und französische Panzer standen vor der Panzersperre, die beim Gasthof Lamm errichtet war. Frauen und Männer räumten in aller Eile die Sperren zur Seite, so dass die Panzer frei passieren konnten. Aus allen Häusern wehten bald weiße Leintücher, Handtücher, Bettbezüge und Hemden als Zeichen der Übergabe der Ortschaft an die Franzosen. Die Küchen der Gasthäuser bekamen Hochbetrieb, denn die französischen Soldaten waren hungrig und durstig und taten sich gütlich an Mittelstädter Spezialitäten.
Noch am selben Abend zogen sich die Franzosen jedoch wieder nach Oferdingen zurück. Eine deutsche Einheit unter Führung eines blutjungen Leutnants besetzte in der Nacht erneut den Ort. Er befahl sofort, die weißen Fahnen wieder einzuziehen. Der Büttel, in jenen Tagen ein vielbeschäftigter Mann, eilte im Laufschritt mit seiner Schelle durch die Straße, um dies zu verkünden.
Am 21. April, vormittags 10 Uhr, nahte wiederum eine französische Panzerabteilung von Oferdingen her. Eine andere Abteilung war bei Hammetweil aufgefahren. Das Fehlen der am Vortage von den Mittelstädtern gehißten weißen Fahnen mag den Befehlshaber dieser Panzergruppe bewogen haben, noch einmal blindlings mit Brandgranaten in das Dorf zu schießen. Gegen i.o.15 Uhr begann die Scheuer der Maria Kiefner, Lodenbergstraße 14, zu brennen, um 10.30 Uhr schlugen Panzergranaten in die Zehntscheuer ein und setzten sie in Brand. Wieder an der Bergsteigstraße lagen deutsche Soldaten in Stellung und versuchten einen völlig sinnlosen Widerstand, dabei büßten zwei Landser noch ihr Leben ein. Der Rest der Soldaten begann dann in Richtung Bempflingen zu fliehen oder sich in den Häusern zu verstecken. Die Flüchtenden kamen aber nicht weit, Hubschrauber, die die Panzeraktion unterstützten, trieben sie wieder in den Ort zurück, wo sie gefangen genommen wurden. Gegen Mittag war Mittelstadt fest in der Hand der Franzosen. Dabei blieb es.
Die im Dorf oft vernommene Meinung, daß der Ortsgruppenleiter Wolfer und Wilhelm Geckeler sich am Nachmittag des 21. April im Laichle versteckt hätten und am nächsten Morgen ins Dorf zurückgekehrt seien, um das Einholen der weißen Fahnen sowie die Verteidigung Mittelstadts anzuordnen, hat sich einwandfrei als falsch herausgestellt. Wolfer befand sich am 21. April auf Grund eines Marschbefehles, der im Falle der Einnahme Mittelstadts gültig wurde, schon im Oberland.