Die Partei
Die NSDAP hatte 1933 in Mittelstadt so gut wie in anderen Gemeinden Fuß gefasst. Sie versuchte mit einer gut durchdachten Organisation ihre Propaganda bis in die letzten Familien zu tragen.
Die an nationalen Feiertagen sichtbare Einheit der Parteigenossen im Dorf bildete die Ortsgruppe. An ihrer Spitze stand ein Ortsgruppenleiter. Ein Propagandaleiter hatte für die Verbreitung des nationalsozialistischen Gedankengutes zu sorgen, während den Blockleitern Ortsteile und den ihnen wiederum unterstellten Zellenleitern Straßenzüge zur Betreuung anvertraut waren. Die Frauen unter Führung einer Frauenschaftsleiterin waren in der NS-Frauenschaft zusammengefasst, die Bauern in der Ortsbauernschaft unter einem Ortsbauernführer. Zehn bis vierzehn Jahre alte Buben mussten dem Jungvolk, Mädchen im gleichen Alter den Jungmädchen angehören. Nach Beendigung der Volksschulpflicht, mit vierzehn Jahren also, wurde die feierliche Überweisung in die sogenannte Hitlerjugend — HJ — bzw. in den Bund Deutscher Mädel, den BDM, vorgenommen. Der wöchentlich zweimal stattfindende sogenannte »Dienst« in Uniform war Pflicht. Sommers trugen die Buben des Jungvolkes und der Hj ein braunes Hemd mit schwarzem Schlips, der oben am Kragen durch einen sogenannten Lederknoten zusammengehalten wurde und eine schwarze Kniehose aus Manchesterstoff. Die Winteruniform bestand aus einer schwarzen Jacke mit aufgesetzten blanken Metallknöpfen und einer schwarzen Skihose. Am linken Oberarm war eine rote Armbinde mit schwarzem Hakenkreuz auf weißem, rundem Feld aufgenäht. Die Sommer- wie die Winterhose wurde durch ein Lederkoppel gehalten. Das Koppelschloß trug außer dem Reichsadler mit dem Hakenkreuz in den Fängen die Aufschrift Blut und Ehre. Die Mädchen von JM und BDM trugen einen schwarzen Rock mit weißer Bluse, die ebenfalls mit schwarzem Schlips und Knoten verziert war. Dazu kam im Winter eine schwarze Jacke. Die Uniformen mussten jeweils vom Einzelnen selbst bezahlt werden.
Sterne, Silbertressen und farbige Achselschnüre bildeten schon bei der Jugend die sichtbaren Zeichen der einzelnen Dienstränge wie Jungenschaftsführer, Jungzugführer, Fähnleinführer oder Kameradschaftsführer, Scharführer und Gefolgschaftsführer. Ihnen übergeordnet waren die Stamm- und Bannführer. Mit diesen Dingen reizte die Partei sehr stark den Ehrgeiz der Jugendlichen an, zu befehlen, zu herrschen und zu beherrschen.
Außer den genannten Bünden gab es noch eine Reihe von Spezial-Organisationen wie zum Beispiel die SA (Sturmabteilungen), die Flieger-HJ, Marine-HJ oder andere. Das ganze Leben war von der Partei vollkommen durchorganisiert. Der allgegenwärtige Staat regierte.
Die Aufgabe der Partei war ganz klar: Erziehung des deutschen Volkes zum Nationalsozialismus Hitlerscher Prägung. Es war erstaunlich, zu sehen, wie weit es sie hierin innerhalb weniger Jahre brachte. Große Teile des Volkes gehorchten und folgten ihr blindlings. Dies trifft auch für die Mittelstädter zu. Allein die Feiern zum i. Mai jeden Jahres beweisen dies sehr deutlich.
1941 wurde Oberlehrer Wolfer zum kommissarischen Ortsgruppenleiter der NSDAP in Mittelstadt bestellt. Er blieb dies bis zum Umsturz. Daß der ehemals außerordentlich beliebte Volksschullehrer nach und nach die Zuneigung der Dorfbewohner verlor, lag nicht an seiner Person, sondern an dem Amt, das er zu verwalten hatte. Schon seine Verpflichtung, jeweils in Uniform den Eltern oder Frauen die Meldung über den Soldatentod des Sohnes oder Mannes zu überbringen, musste ihn zu einem Schreckgespenst im Ort werden lassen. Todesboten haßt man, weil sie die Hoffnung rauben. Dies war das eine.
Zum anderen oblag dem Ortsgruppenleiter die Verpflichtung, für die Einhaltung der staatlichen Gesetze zu sorgen, z. B. derjenigen, die das Schwarzschlachten von Tieren, das Abhören alliierter Sender und andere Dinge verboten. Außerdem hatte er in den letzten Kriegsmonaten die Aufgabe, die Verteilung von Lebensmitteln und Brennstoffen zu überwachen. Oft verteilte er sie selbst, um häufig vorkommenden Unregelmäßigkeiten somit vorzubeugen. Dies alles musste ihn zwangsläufig in Misskredit bringen.
Er hätte verschiedentlich die Pflicht gehabt, Anzeigen über Vergehen gegen die obengenannten Gesetze weiterzumelden. Diese Anzeigen wurden ihm von Mittelstädter Parteigenossen überbracht. Er hat diese Fälle auf seine Weise im persönlichen Gespräch mit den Betroffenen geregelt und die ihm zugespielten Anzeigen nicht weitergeleitet. Bei diesen Anzeigen handelte es sich mehrfach um persönliche Bereicherung Einzelner an den für die Dorfbewohner bestimmten rationierten Zuteilungen an Lebensmitteln und Brennstoffen. In einem Fall teilten wenige Mittelstädter noch in den letzten Kriegstagen den für die Zuteilung an alle vorgesehenen Kohlevorrat unter sich auf.
Für solche Vergehen waren damals Schnellgerichte zuständig, die in diesen Fällen in der Regel die Todesstrafe verhängten.
Ortsgruppenleiter Wolfer hat während seiner Amtszeit keinen Mittelstädter den Nazigerichten ausgeliefert. Er hat zwar sein Amt den damaligen Weisungen entsprechend streng geführt, hat aber auch in entscheidenden Augenblicken den Menschen höher bewertet als die Idee. Und das war damals viel. Mittelstadt musste in jener Zeit einen Ortsgruppenleiter haben, ob es wollte oder nicht; es wurde nicht darnach gefragt. Daß es den Oberlehrer Wolfer bekam, war in gewisser Hinsicht ein Glücksfall. Er war auch nicht der einzige Parteigenosse dieses Dorfes. Davon gab es bei uns weit über hundert.
In wieweit der letzte Ortsgruppenleiter schuldig an dem sinnlosen Widerstand der letzten Tagen vor dem Umsturz wurde, mag er selbst entscheiden. Die Zerstörungen im Ort ihm zur Last zu legen, ist jedoch absurd, sie gehen auf Rechnung der offenbar schießlustigen französischen Panzersoldaten und jenes jungen deutschen Leutnants, der das Einholen der weißen Fahnen befahl.
Es wird gut sein, wenn wir diese Zeit ohne Hass und Liebe sehen lernen und uns darum bemühen, situationsgerechte Urteile zu fällen; manches erscheint dann in einem Lichte, das uns hilft, wieder versöhnlicher zu denken.